Vorübergehende Inkontinenz

Hilfe, wer hilft meinem Auslaufmodell?

Wir fahren jeden Sommer zusammen nach Italien. Mindestens zweimal. Seit 20 Jahren. Unsere Vorfreude darauf beenden wir stets zur Geisterstunde. Wir schleichen uns um Mitternacht von zu Hause weg, um ungeschoren durch den zermürbenden Schweizer Tunnel zu kommen, Mailand hinter uns zu lassen, bevor wir beim ersten Budino an der toskanischen Küste erwachen. Ich gebe meinem Partner dafür alle Zeit, die er braucht. Ein Cabrio quält man nicht. Dieses schon gar nicht.

Viel Auto fürs Geld

Wahrscheinlich kann sich kaum noch einer an den Daimler-Chrysler Konzern erinnern. Die globale Wirtschaftsheirat war damals der Grund, warum man dieses Auto plötzlich einfach vom Hof weg kaufen konnte wie einen VW oder einen Opel. Ich wollte aber keinen VW und keinen Opel. Ich wollte das: ein Chrysler Sebring Cabrio, sechs Zylinder, 2,7 Liter, 200 PS, fünf Meter lang, Platz für fünf Personen, großer Kofferraum. Das Ganze verpackt in eine zeitlos schöne Form ohne Ecken und Kanten und für nicht mal 30.000 Euro. Mein Freund, der sich nur selten in den Niederungen der Mittelklasse bewegt, schaute sich das Riesenteil an, nahm Platz und sagte: „Da hast du aber viel Auto fürs Geld.“

Das Projekt meines Lebens  

Früher gingen wir tagtäglich durch Wind, Wetter, Regen, Hitze und Schnee. Ein entspanntes Fahren mit dem Inbegriff des Cruisers. Seit das Cabrio in die Jahre gekommen ist, behandle ich es wie einen Fußballprofi und gönne ihm seine Winterpause. Der Lohn für seine ewige Zuverlässigkeit. Es brauchte mal eine neue (gebrauchte) Lichtmaschine, mal musste ein Kabel unterm Fahrersitz gelötet werden, damit das nervige rote Licht auf dem Armaturenbrett verschwindet. Nach 15 Jahren haben sie mir ein neues Verdeck gespannt (ein detailgetreuer Nachbau, weil es kein Original mehr gibt). Mal verkürzten sie einen Schlauch um seine undichte Stelle. Ich hätte die Zeichen erkennen können. Aber meine Werkstatt hat das Cabrio immer sauber gewartet, es hat mich nie im Stich gelassen. Für mich war klar: Solange ich noch hinterm Steuer sitze, werden sich unsere Wege nicht trennen. Bis neulich…

Plötzlich bist Du ausgemustert

„Guten Tag“, sagte ich ins Telefon, „ich brauch‘ wieder die Hauptuntersuchung für meinen Sebring. Ich glaube aber, dass irgendwas nicht in Ordnung ist. Ich habe so Flecken unterm Auto. Und Öl oder Kühlflüssigkeit können es nicht sein.“ Stille. „Einen Moment“, sagte die Dame dann, um sich 30 Sekunden später wieder zu melden: „Tut mir leid, aber wir reparieren den Sebring nicht mehr.“ Ich dachte zuerst, das ist ein Witz. Doch die Dame meinte es bitter ernst. „Aber, aber“, stotterte ich, „ich habe den Sebring doch bei euch gekauft. Erst vor 20 Jahren.“ Wieder Stille, diesmal peinliche. „Wir haben Chrysler nicht mehr, tut mir leid“, sagte die Dame dann.

Wir wollen doch zusammen alt werden

Um Himmels Willen. Ich weiß ja, dass es Chrysler nicht mehr gibt, dass es etwas umständlich ist, an gebrauchte Ersatzteile zu kommen und dass sich kaum einer mit dem Auto auskennt. Aber mit so einer Abfuhr hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Zum Glück kenne ich einige Leute, die ihre Freizeit hauptsächlich alten Autos widmen. Die wiederum kennen Leute, die alles reparieren. Man empfahl mir einen Spezialisten. Ich rief dort an und sagte, worum es ging.

Ein Hurra auf die HU

„Bring das Ding, wie immer es heißt, vorbei“, sagte er. Ich brachte das Ding vorbei. Ich hörte drei Tage lang nichts, eine Woche. Nach zehn Tagen kam der Anruf. „Du kannst dein Auto abholen.“ Gegenfrage: „Was war jetzt wegen der Flecken?“ Konter: „Du hast die Plakete. Der Mann von der GTÜ und ich haben das Ding von oben bis unten durchgecheckt. Da war nichts, das Auto hat nichts. Du hast die Plakete, du kannst ihn holen.“ Ein Hoch auf die freien Werkstätten!

Keine Gedanken an später

Vielleicht hätte ich mehr Vertrauen haben sollen, vielleicht ist vorübergehende Inkontinenz bei einem 20 Jahre alten Auto auch völlig normal. Vielleicht war es auch nur der Regen, dessen klares Wasser sich von oben in die Spaltmaße zwängt und auf ziemlich verschlungen Wegen unten als braune Brühe wieder rausläuft. Dennoch stellt sich mir die bange Frage: Was, wenn wirklich mal was kaputt ist? War’s das dann? Ich verdränge diesen trübseligen Gedanken. Außerdem habe ich neulich von der Werkstatt, die meinen Sebring nicht mehr will, eine nette Mail bekommen. Eine Einladung. Sie freuen sich, wenn ich das neue Modell, das kein Chrysler ist, anschaue. Ich kann da aber nicht. Wir fahren nach Italien.